"Es ist nur ein Job."

Nach etwa einem halben Jahr als Radbotin, fühlte ich beim Duschen meine Beine - oho! Wow, fühlt sich schon geil an. Mehr definierte Beinmuskulatur, knackige Waden, ein Körper der sich nach 3 Tagen Urlaub unausgeglichen fühlt und nach einem Fahrrad schreit. Das macht mir schon auch Sorgen, wenn ich daran denke, mir einen neuen Job zu suchen. Viele Kollegen, die im Unternehmen aufgestiegen sind und mehr Zeit im Office als auf der Straße verbringen, oder die eben in andere Jobs gewechselt haben, sind wieder zurück in ihre Sesselfigur gefallen. Von der Figur abgesehen, erinnere ich mich an längere und stärkere Winterdepressionen bevor ich Radbotin wurde. In vielerlei Hinsicht könnte das ein gesunder Job sein.

Als Radbotin ist man für alle Fälle gerüstet: Werkzeug, Snacks, Regenschutz, bestimmte Dinge hat man immer dabei. Mit der Zeit kennt man die Stadt, die Abkürzungen, die unübersichtlichen Kreuzungen und gefährlichen Strecken, den Stoßverkehr. Der Orientierungssinn wird besser, die Reflexe werden schneller, das innere Navigationsystem und die Abschätzung von Distanzen oder Bremswegen wird effizienter, das eigene Verhalten im Straßenverkehr - auch außerhalb der Arbeit - wird selbstbewusster und aufmerksamer. Der Kopf wird frei. An sonnigen Tagen bei wenig Verkehr kann man diese gewonnene Radbotinnen-Identität richtig genießen. Manchmal genieße ich sie auch bei Regen oder sogar bei Schnee, wenn ich gut ausgerüstet bin und alles passt. Allerdings ist das nicht immer der Fall.

Mittlerweile sind meine beiden Regenhosen gerissen, die von Mjam zur Verfügung gestellte Regenjacke hält längst nicht mehr dicht. Meine Handschuhe sind alle löchrig. Auch der Großteil meiner Leggins hat schon zerrissene Knie von einigen Stürzen. Die Gamaschen nutzen sich schnell ab, Sonnenbrillen bekommen Kratzer, das ist aber alles nicht so schlimm. Das Fahrrad braucht viel Pflege. Wenn der Job keinen Spaß mehr macht, ist es wahrscheinlich höchste Zeit das Rad zu servicieren. Ölen, Bremsen nachziehen oder Beläge tauschen, Kette wechseln - damit allzu oft auch die Kassette tauschen,.... wer einmal eine Felge durchgebremst hat, hat hoffentlich seine Lektion gelernt. Schaltung einstellen. Seile und Bauden erneuern. Vielleicht ist das Lenkerband schon rissig und der Sattel auch nicht mehr das was er mal war. Vielleicht hat man sich an gewisse Geräusche schon gewohnt, aber ein frisch serviciertes Rad gibt doch wieder ein ganz neues Lebensgefühl. Manchmal reicht auch einfach mal liebevoll waschen und putzen.

Oft will ich aber das Rad einfach in den Abstellraum stellen oder auf den Balkon, und dann erst mal mich selbst versorgen. Dann vergesse ich oder schieb es raus, weil ernsthaft: ich hab ja noch andere Dinge zu tun, als mich um meinen Job zu kümmern! Dann hoffe ich, dass es am nächsten Tag zumindest nicht regnet, weil mit diesen Bremsen ist das ein wirklich unnötiger Nervenkitzel. Mit einem schlecht gewarteten Rad wird der Job schnell physisch und psychisch belastend. Ist die Zeit, die ich in die Instandhaltung meines Rades investiere, die selbe, die ich umso mehr benötige, um mich zu erholen, wenn ich mich nicht darum kümmere?

Wenn ich mit Kollegen spreche, höre ich oft: "Weißt du, für mich ist das nur ein Job. Ich identifiziere mich nicht damit." Das verstehe ich gut. So sehr ich die Radbotenszene mag, ich bin selbst kein Freak. Während manche Kollegen sich freuen, endlich dorthin radeln zu können, wo sie wollen, will in meiner Freizeit auch mal gern andere Dinge machen als Radfahren. Vielleicht strebe ich eine Karriere als Künstlerin an. Vielleicht überlege ich mir irgendeine Ausbildung zu machen oder doch mein Studium wieder aufzunehmen. Welcher andere Job würde mir die Freiheit dazu geben? Vielleicht ein Job, wo ich danach nicht erstmal nach Hause muss, um den Rucksack abzulegen, verschwitzte Kleidung auszuziehen und zu duschen, sondern wo ich gleich nach Arbeitsende machen kann, was immer ich will?

Bevor der Kollektivvertrag Nachtzuschläge gebracht hat und keinerlei Sonntagsregelung bestand, war es für eine echte Dienstnehmerin Pflicht, am Abend und mindestens einmal am Wochenende zu arbeiten. Ich arbeitete also manchmal mittags, meistens abends und jeden Sonntag Abend. Das hat mein Sozialleben beeinflusst: Zu den Freundinnen in 9-5-Jobs habe ich den Anschluss verloren. Eine Zeit lang hing ich nur mit Kollegen ab, oder Freundinnen, die in der Gastro arbeiten oder sonst irgendwie ähnlich beschissene Arbeitszeiten haben. Gesund ist das jedenfalls nicht - zumindest nicht für mich. Im klassischen Botendienst hätte ich 9-5 arbeiten können, aber ich wollte meine ED-Position nicht verlieren. In Wien gibt es soweit ich weiß keinen einzigen klassischen Botendienst, der tatsächlich Festanstellungen anbietet. Seit dem KV hat sich das gebessert, weil es die Firma für die Schichten am Abend und am Wochenende also lieber Freie Dienstnehmer verwendet, für die sie keine Zuschläge bezahlen müssen. FDs lieben Schichten am Abend und am Wochenende, weil es da viel Arbeit gibt. Das heißt für sie viele Bestellungen pro Stunde, also viel Verdienst. Ich weiß, Abende und Wochenenden ist auch wenig Verkehr, aber ich bin glücklich, am Abend auch mal andere Freunde zu treffen und an Wochenenden die Familie besuchen zu können. ...Wenn nicht gerade Lockdown ist, versteht sich.

Als vor etwas mehr als einem Jahr als der erste Lockdown begonnen hat, hab ich also monatelang kaum etwas anderes gemacht als Radfahren. Ich hab mir keinen Urlaub genommen, ich war auch nie krank. Obwohl ich nur 20 Stunden arbeite, habe ich oft vom Radfahren geträumt. Als ich mehr als 25 Stunden gearbeitet habe - und tatsächlich bin ich ja auch bei 20 h pro Woche eigentlich 25 h pro Woche am Rad - hatte ich häufig vom Radfahren geträumt. Wie geht es den Kollegen, die Vollzeit arbeiten? Den FDs, die mehr als 50 oder bis zu 80 h pro Woche arbeiten? Sehen die ihre Familien? Freunde? Kinder? Haben die Zeit, sich um eine andere Ausbildung umzuschauen? Hobbies auszuüben? Zu leben?

Ich glaube, es ist entweder Luxus oder Verdrängung, sich nicht mit diesem Job zu identifizieren. Vielleicht sagt man das als Studentin, die nur etwa 15 Stunden pro Woche arbeitet, oder als jemand, der für den Großteil seiner Tage einfach seine menschliche Identität aufgibt und stattdessen Maschine im Dienste von Delivery Hero oder Takeaway ist, - einem DAX-Unternehmen, das noch nie Profit gemacht hat.

Nein, es ist nicht nur ein Job. Es ist unsere Lebenszeit, die wir hier machtlos verbringen, auf dass unsere Zukunft auch nicht besser wird. Es müssen Mieten und Rechnungen gezahlt, Freundschaften gepflegt und Kinder erzogen, neue Perspektiven gefunden und bessere Leben gelebt werden. Riders be Riders and Riders Unite!