Krankenstand

Gleich nach den KV Verhandlungen fühlte ich mich schwach und bereits etwas krank. "Ist doch nichts, was eine heißes Bad und ein ruhiger Abend nicht lösen würde", dachte ich mir. Am nächsten Tag war das Wetter schön sonnig, und ich haderte mit der Vernunft, ob es wirklich so klug ist, Radfahren - also Arbeiten zu gehen. Nach 2 Stunden hab ich doch die Arbeit abgebrochen, um zum Arzt zu gehen. Seither bin ich im Krankenstand.

Das hat jetzt nicht speziell mit den KV Verhandlungen zu tun.
Ein studierender Kollege hätte vielleicht gerade viel fürs Studium zu tun, sei es Abschlussarbeit oder Prüfungszeit oder einfach eine mühsame Gruppenarbeit, oder eben alles auf einmal.
Eine andere Kollegin wirft sich vielleicht gerade als Klimaaktivistin schwer ins Zeug, ein weiterer versucht sich gerade selbständig zu machen; ein weiterer zerbricht gerade an allerhand Sorgen und Ängsten, die sich während der Pandemie eben so auftun.
Ein weiterer Kollege hat vielleicht gerade Stress im Privatleben, vielleicht wird ein Umzug nötig sein, vielleicht gab es Streit in der Familie oder Beziehung.
Vielleicht bleiben bei einem weiteren Kollegen viele Dinge auf der Strecke und dauerhaft vernachlässigt, weil er schon seit Monaten weit mehr als 40 h arbeitet und schon ganz vergessen hat, dass er mit seinem Leben auch noch anderes machen kann, als Geld zu verdienen. Darunter leidet die Wohnung, die Familie, die Freunde, die körperliche Gesundheit, die Finanzen, die psychische Gesundheit, die soziale Sicherheit, es kann leicht zu einem Teufelskreis werden.

Wir haben alle unser Päckchen zu tragen und können uns sehr glücklich schätzen, wenn das Leben gerade stressfrei ist. Manchmal wirkt das Leben auch stressfrei, weil eh alles Spaß oder Sinn macht, was man tut. Man checkt das Bedürfnis nach Ruhe erst, wenn die Gastritis schon ausgereift ist, oder das Pfeifen im Ohr nicht mehr weg geht, wenn sich der Schmerz im Knie entzunden hat, oder man einen Unfall aus Unachtsamkeit erleidet, oder plötzlich wegen einer Kleinigkeit aggressiv wird und Dinge tut, die einen selbst erschrecken. Wir wissen nicht, was andere Menschen in ihren jeweiligen Leben gerade durchmachen. Klar dürfte aber sein, dass bei uns in dieser Branche bzw. im Leben von Arbeiter*innen im Niedriglohnsektor oft einige Stressfaktoren zusammenkommen. Krankenstand bedeutet für viele Lohnverlust. Auch wenn der keinen Lohnverlust mit sich bringt, fürchten viele auch um ihren Job, wenn sie zu oft krank sind. Zusätzliche Stressfaktoren also. Auf lange Frist braut sich da ganz schön was zusammen.

Die Antibiotika haben bei mir nicht gewirkt, die Ärzte nahmen sich keine Zeit für mich sondern verschreiben mir stattdessen sauteure Vitaminpräparate, die mich durch den Winter und durch den ganzen Stress bringen sollen. Meh. Die Wirksamkeit von Vitaminpräparaten ist strittig, und ich geb mein Geld auch lieber für Gemüse aus. Aber wie lange soll ich denn noch krank sein? Ich kann doch nicht 3 Wochen im Krankenstand bleiben! Irgendwas muss doch helfen? Nach einem kurzen Moment der Verzweiflung beschließe ich, mich nicht weiter zu stressen. Heilung passiert eben oft nicht so schnell, wie es sich die Wirtschaft wünscht, indem man eine Woche Antibiotika nimmt und dann wieder arbeitsfähig ist, solange man nur brav seine Vitamine schluck, aber den stressigen Lebensstil beibehält. Na dann bleibe ich halt noch eine Woche im Krankenstand, koche mir gesundes Essen und gehe die Dinge ruhiger an. Dafür gibt es ja bezahlten Krankenstand ....und ein Arbeitszeitgesetz mit Maximalarbeitszeiten, Ruhephasen und Überstundenzuschlägen.... das dringend an unsere aktuellen Lebensumstände und die Stressfaktoren der Digitalisierung angepasst werden muss.

Solange man gesund ist, kann man sich Krankheit schwer vorstellen. Wenn man krank ist, braucht man aber fix keine weiteren Stressfaktoren, die wohl "dazu motivieren sollen, schneller gesund zu werden". Im Krankheitsfall nicht voll bezahlt zu werden, ist nichts als Ermutigung zur Selbstausbeutung. Ja, die meisten von uns wollen diesen Job ohnehin nicht ewig machen. Es gibt kaum Jobs, die man heutzutage ewig macht. Aber das ist wirklich kein Grund, auf Lebensqualität und echte soziale Absicherung zu verzichten.